
Die am 15. September 2023 veröffentlichte Studie „Deutsche Wissenschaft seit dem 7. Oktober: Selbstzensur und Einschränkungen unter Forschenden mit Nahostbezug“ der Freien Universität Berlin zeigt alarmierende Ergebnisse zum Zustand der Wissenschaftsfreiheit in Deutschland. Laut der Untersuchung, die von Jannis Julien Grimm und seinen Mitautoren durchgeführt wurde, berichten rund 85 % der befragten Wissenschaftler*innen von einem spürbaren Anstieg der Bedrohung der Wissenschaftsfreiheit seit dem 7. Oktober. Die Erhebung richtete sich an ca. 2000 Wissenschafter*innen, die sich mit Themen des Nahen Ostens beschäftigen. Die ermittelten Daten verdeutlichen ein Spannungsfeld zwischen freier Debatte und wachsender Diskursverengung.
Besonders signifikant ist, dass 90,5 % der Postdocs sich unter Druck gesetzt fühlen, während 25,9 % der Befragten angeben, häufig das Gefühl zu haben, sich nicht frei äußern zu können. Insbesondere bei Themen, die Israel betreffen, halten sich 76 % der Wissenschaftler*innen zurück. Diese Zurückhaltung zeigt sich nicht nur in Forschung und Lehre, sondern auch bei öffentlichen Veranstaltungen (81 %) und Medienbeiträgen (54 %). Die Gründe sind vielfältig: Angst vor Missverständnissen, öffentlicher Anfeindung und drohenden beruflichen Konsequenzen. Die Abhängigkeit von Drittmitteln verstärkt diesen Druck, insbesondere für freiberufliche Wissenschaftler*innen.
Selbstzensur und wissenschaftliche Integrität
Die Ergebnisse der Studie, an der 477 Wissenschaftler*innen aus einer gezielten Stichprobe teilnahmen, werfen ein kritisches Licht auf die akademische Freiheit in Deutschland. Fast ein Viertel der Befragten fühlt sich in ihrer wissenschaftlichen Arbeit nicht mehr frei, ihre Meinung zu äußern. Jannis Julien Grimm, der Projektleiter der Studie, verdeutlicht, dass das negative Debattenklima eine Ursache für die wahrgenommene Bedrohung ist. Die Selbstzensur ist besonders ausgeprägt bei Kritik an Israel oder Solidarität mit Palästina.
Der Druck auf Wissenschaftler*innen verläuft dabei in beide Richtungen. Während einige häufige Kritik an Israel vermeiden, sind andere zurückhaltend, wenn es um Solidaritätsbekundungen für Palästinenser geht. Über die negativen Auswirkungen des Debattenklimas sind sich auch Wissenschaftler*innen, die nicht an der Studie beteiligt waren, bewusst. Politikwissenschaftler Heiko Giebler kritisiert zwar die wissenschaftliche Verwertbarkeit der Umfrage, erkennt jedoch den Wert der Ergebnisse als Spiegel des aktuellen Stimmungsbildes in der Wissenschaft an.
Der Kontext der deutschen Wissenschaftsfreiheit
Die Studie verweist zudem auf eine gestiegene Wahrnehmung des Drucks, das Thema Israel/Palästina zu meiden, was von über 50 % der Befragten bestätigt wird. 27,8 % spüren dagegen einen erhöhten Druck zur öffentlichen Äußerung. Diese Beobachtungen sind in echo mit anderen nationalen und internationalen Studien zur wissenschaftlichen Redefreiheit. Besonders hervorzuheben sind die Herausforderungen, die durch die hohe Politisierung des Israel/Palästina-Themas in der deutschen Gesellschaft entstehen. Viele Wissenschaftler*innen berichten von persönlichen Erfahrungen mit Hassrede und Drohungen im Internet, sowie von Vorwürfen des Antisemitismus und medialer Diffamierung.
Die Studie zeigt klaren Handlungsbedarf auf: Schutzmechanismen für Nachwuchswissenschaftler*innen müssen verbessert werden, und eine unterstützende Debattenkultur muss gefördert werden. Hochschulen sind gefordert, die Meinungsfreiheit und die Integrität ihrer Forschenden zu schützen. Dies wird als vorrangige Aufgabe von Bildungseinrichtungen angesehen. Zusammengefasst stellt die Studie nicht nur eine umfassende Analyse der aktuellen Situation, sondern auch ein dringendes Plädoyer für die Wissenschaftsfreiheit in Deutschland dar. Weitere Informationen finden Sie auf Freie Universität Berlin.