
Die neue Forschungsgruppe „Times of Rise and Failure – TORF“ hat die Aufgabe, das mittelalterliche Leben im nordfriesischen Wattenmeer zu erforschen. Das Projekt, das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert wird, hat eine Laufzeit von vier Jahren und kombiniert sieben Teilprojekte aus geistes- und naturwissenschaftlichen Disziplinen. Die Sprecherin des Projekts, Dr. Hanna Hadler vom Geographischen Institut der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, führt das Team an, das sich mit dem einzigartigen Ökosystem und den historischen Hinterlassenschaften des nordfriesischen Wattenmeers beschäftigt, das zum UNESCO-Welterbe gehört.
Ein zentrales Ziel dieser interdisziplinären Forschung ist die Rekonstruktion der einst blühenden Küstenlandschaft Nordfrieslands, die im Laufe der Jahrhunderte durch Naturkatastrophen erheblich verändert wurde. Insbesondere die verheerende Sturmflut von 1362, auch als „1. Grote Mandränke“ bekannt, führte zu einem massiven Verlust an Land und Leben. Diese Sturmflut brachte notdürftige Deichbrüche und löschte ganze Dörfer aus, was viele Fragen zur Mensch-Umwelt-Interaktion aufwirft.
Rungholt und seine Mythen
Unter den verlorenen Orten, die durch diese Sturmflut untergingen, gilt Rungholt als eines der faszinierendsten Beispiele. Historische Berichte beschreiben Rungholt als einen wohlhabenden Handelsplatz, der angeblich reicher war als Rom. Mythen besagen, dass die Zerstörung des Ortes eine Strafe Gottes für das Trinken der Bauern war. Dichter wie Detlev von Liliencron und Theodor Storm haben Rungholt in ihren Werken erwähnt, was zur mythologischen Aura dieses versunkenen Ortes beigetragen hat.
Die Archäologie hat die Existenz von Rungholt mittlerweile bestätig und die Wissenschaftler vermuten, dass der Ort ein Zentrum für Handel mit Waren wie Salz, Wolle und Bernstein war. Der Archäologe Andreas Busch entdeckte 1921 erste Kulturspuren im Watt und schätzte die Einwohnerzahl des Handelsplatzes auf etwa 1.500 bis 2.000. Der genaue Standort von Rungholt bleibt jedoch umstritten. Während Busch ihn südlich der Hallig Südfall vermutete, hat der Ethnologe Hans-Peter Duerr Hinweise entdeckt, die auf eine Lage nördlich der Hallig hindeuten.
Aktuelle Entdeckungen und Forschungsziele
Im Mai 2023 entdeckte ein Forscherteam bei Hallig Südfall Siedlungshügel, die bedeutende Überreste aus der mittelalterlichen Zeit beherbergen. Unter diesen Funden befinden sich die Fundamente einer beeindruckenden Kirche sowie Entwässerungssysteme und ein Seedeich mit Sielhafen. Das gefundene Gebiet wird als einer der Hauptorte des mittelalterlichen Verwaltungsbezirks Edomsharde angesehen. Diese Entdeckungen wurden durch diverse geophysikalische Methoden ermöglicht, unter anderem durch magnetische Gradiometrie, elektromagnetische Induktion und Seismik, um die Siedlungsreste genauer zu lokalisieren.
Die vorgefundenen Kulturspuren sind jedoch stark gefährdet, da Erosion viele Siedlungsreste nur noch als Negativabdruck erkennbar macht. Dr. Hadler hebt hervor, wie wichtig es ist, die Erforschung in diesen erodierten Gebieten zu intensivieren. Das Projekt „TORF“ zielt nicht nur auf ein besseres Verständnis der historischen Küstenlandschaft ab, sondern auch auf die Sensibilisierung der Öffentlichkeit für Küstenrisiken, die durch den Klimawandel verstärkt werden.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Forschung zur untergegangenen Küstenlandschaft Nordfrieslands und zu Rungholt einen bedeutenden Beitrag zur Historie und zur aktuellen Küstenschutzforschung leistet. Die Erkenntnisse aus den Projekten könnten weitreichende Implikationen für die zukünftige Erhaltung unseres kulturellen Erbes haben, während gleichzeitig die Herausforderungen von Extremereignissen und ihre Auswirkungen auf die Küstenentwicklung untersucht werden.
Für weitere Informationen zu dieser bemerkenswerten Forschung kann auf die Berichte von presse.uni-mainz.de, ndr.de und uni-kiel.de verwiesen werden.