
Psychiatrische Anstalten wurden während des Nationalsozialismus zu grausamen Orten des Mordes. Schätzungen zufolge fielen mindestens 250.000 psychisch kranke und behinderte Menschen dem brutalen Euthanasieprogramm zum Opfer. Diese schockierenden Tatsachen wurden von Prof. Maike Rotzoll, einer renommierten Historikerin im Bereich der Pharmazie und Medizin an der Universität Marburg, in einem Vortrag mit dem Titel „Nach dem Krankenmord“ thematisiert. Die Veranstaltung fand im Rahmen der Ruperto Carola Ringvorlesung der Universität Heidelberg statt, die sich mit gesellschaftlich relevanten Forschungsfragen auseinandersetzt, um diese einem breiten Publikum näherzubringen. Diese Ringvorlesung trägt die Überschrift „1945: Epochenschwelle und Erfahrungsraum“ und liefert sowohl eine rückblickende Deutung des Endes des Zweiten Weltkrieges als auch eine Rekonstruktion des menschlichen Erlebens und Erleidens in dieser Zeit.
Prof. Rotzoll erläuterte, dass das anstaltspsychiatrische System in Deutschland bis zur Psychiatriereform in den 1970er Jahren weitgehend unverändert blieb. Die Machenschaften der Euthanasie und der Zwangssterilisierungen, bei denen Psychiater aktiv mitwirkten, zeichnen ein düsteres Bild der Rolle der Psychiatrie in der Zeit des Nationalsozialismus. Die Forschung zeigt, dass über 70.000 Patienten zwischen Januar 1940 und August 1941 in Tötungszentren ermordet wurden, oft ohne dass sie je persönlich von einem Psychiater gesehen wurden.
Die Rolle der Psychiatrie
Die deutsche Psychiatrie war nicht nur passive Zeugin, sondern auch aktive Beteiligte an den Verbrechen des Nationalsozialismus. Etwa 296.000 psychisch beeinträchtigte Kinder und Erwachsene wurden in einem Zeitraum von 1933 bis 1945 ermordet, ein Teil des umfassenden Plans zur Ausrottung „minderwertiger“ Menschen. Diskutiert werden zwei Positionen zu diesem Thema: Die eine sieht eine Diskontinuität zwischen 1933 und 1945 und erklärt die Psychiatrie zum Opfer politischer Zwänge, während die andere von einer Kontinuität der Modelle und Personen vor und nach 1933 spricht und die aktive Zuarbeit der Psychiater betont.
Die Voraussetzungen für diese Verbrechen lagen im Sozialdarwinismus und in der Eugenik, die bereits im 19. Jahrhundert ihren Anfang nahmen. Rassenhygiene wurde in der Weimarer Republik politisch gefördert, wobei die Forderungen nach „Euthanasie“ bereits in den 1920er Jahren von den Philosophen Karl Binding und Alfred Erich Hoche formuliert wurden. 1933 wurde das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ verabschiedet, das Zwangssterilisationen an behinderten und psychisch kranken Menschen erlaubte.
Nachkriegszeit und Aufarbeitung
Zehntausende von Patienten starben nicht nur durch aktive Tötungen, sondern auch durch Vern neglect oder medizinische Vernachlässigung in Pflegeheimen. Die Euthanasie-Aktionen verliefen nicht nur zentralisiert, sondern auch dezentral, was zu weiteren Morden in verschiedenen Einrichtungen führte. Trotz der umfassenden und systematischen Verbrechen wurden viele der beteiligten Ärzte und Psychiater nach dem Krieg nie zur Rechenschaft gezogen. Im Nürnberger Ärzteprozess wurden nur wenige wie Karl Brandt und Viktor Brack zum Tode verurteilt.
Die Aufarbeitung der Verbrechen blieb lange Zeit aus. Erste wissenschaftliche Untersuchungen über die Rolle der Psychiatrie im Nationalsozialismus sind erst in den 1940er Jahren gestartet worden, jedoch nahm die Forschung erst in den 1960er Jahren richtig Fahrt auf. Das komplexe Zusammenspiel von ideologischen Motiven, medizinischen Praktiken und den systematischen Morden bleibt ein düsteres Kapitel in der Geschichte der Psychiatrie, das nicht nur die Fachwelt, sondern auch die Gesellschaft als Ganzes betrifft. Die Ringvorlesung an der Universität Heidelberg vermittelt durch die Vorträge eine tiefgehende Auseinandersetzung mit diesen Themen und fördert das Verständnis des historischen Kontextes und der menschlichen Tragödien, die sich in psychiatrischen Anstalten abspielten.
Die Vorträge der Ruperto Carola Ringvorlesung finden montags in der Aula der Alten Universität statt. Die Aufzeichnungen sind später auf heiONLINE, dem zentralen Portal der Universität Heidelberg, abrufbar. Diese anhaltende Auseinandersetzung mit der Geschichte der Psychiatrie ist unerlässlich, um das Gedächtnis an die Opfer wachzuhalten und aus der Vergangenheit zu lernen.