
Die Diskussion um geschlechtssensible Medizin gewinnt angesichts der Ergebnisse einer aktuellen Analyse der klinischen Leitlinien zunehmend an Bedeutung. Professorin Dr. Sabine Oertelt-Prigione, die die AG Geschlechtersensible Medizin leitet, hat in einem Perspektivartikel die Notwendigkeit hervorgehoben, strukturelle Ungleichheiten in der Gesundheitsversorgung anzugehen. Ihr Artikel ist Teil einer Sonderausgabe des British Medical Journal (BMJ) zum Thema „Innovations in Women’s Health“ und betont das Potenzial klinischer Leitlinien für eine gerechtere Gesundheitsversorgung.
In der Gemeinschaft werden die klinischen Leitlinien (Clinical Practice Guidelines, CPGs) als strategische Mittel angesehen, um Versorgungsstandards zu setzen, Forschung voranzutreiben und Innovationspotenziale zu erkennen. Die Analyse von 325 europäischen Leitlinien zwischen 2012 und 2022 zeigt jedoch alarmierende Ergebnisse: Während 74 % geschlechts- oder genderbezogene Begriffe enthalten, beziehen sich nur 4,7 % der Empfehlungen tatsächlich auf diese Aspekte. Besonders in der Kardiologie werden geschlechtsspezifische Fragen vernachlässigt; hier behandeln lediglich 1,6 % der Leitlinien geschlechtsübergreifende Themen.
Die Rolle von Leitlinienkomitees
Ein zentrales Problem ist die männliche Dominanz in den Leitlinienkomitees, was die Berücksichtigung von Genderaspekten in der Entwicklung und Umsetzung dieser Standards beeinträchtigt. Oertelt-Prigione und ihr Forscher*innenteam betonen die Notwendigkeit einer diverseren Besetzung von Expert*innengremien, um inklusivere Empfehlungen zu fördern. Diese strukturelle Neuausrichtung der Leitlinienentwicklung muss verschiedene Zielgruppen, soziale Kontexte und lokale Versorgungskapazitäten in den Mittelpunkt stellen.
Die Diskussion um eine inklusivere Gesundheitsversorgung ist jedoch nicht neu. In der Antidiskriminierungsforschung wird ebenfalls auf die Herausforderungen hingewiesen, die Diskriminierung und Ungleichheiten im Gesundheitssektor hervorrufen. Eine umfassende Betrachtung geschlechtssensibler Medizin ist essentiell. Die Notwendigkeit, geschlechtsspezifische Fragestellungen auch über klassische „Frauenthemen“ hinaus zu adressieren, wird von verschiedenen Autoren wie Bartig et al. (2021) und Heise et al. (2019) untermauert.
Empfehlungen für die Zukunft
Ein entscheidender Vorschlag zur Verbesserung der Leitlinienentwicklung ist die Einbindung von Stakeholdern mit praktischer Erfahrung im Gesundheitswesen, insbesondere aus einkommensschwächeren Ländern. Digitale Tools zur evidenzbasierten Entscheidungsfindung könnten ebenfalls dazu beitragen, die Gesundheitsversorgung zu verbessern. Dabei ist der Feedbackprozess mit lokalen Anwenderinnen von großer Bedeutung.
Um die langfristige Effizienz und Nachvollziehbarkeit von klinischen Leitlinien zu garantieren, fordern die Forscher*innen eine unabhängige Institution zur Koordination internationaler Standards und zur Archivierung der Leitlinien. Durch diese Maßnahmen könnte das Potenzial der Leitlinien, strukturelle Ungleichheiten in Forschung und Versorgung sichtbarer zu machen, besser ausgeschöpft werden. Letztlich soll eine solche Entwicklung dazu beitragen, die Gleichheit in der Gesundheitsversorgung weltweit zu fördern.
Die Ministerien und Institutionen werden aufgefordert, diese Thematik ernst zu nehmen, um noch bestehende Barrieren in der Gesundheitsversorgung gezielt abzubauen und eine gerechtere Verteilung der Gesundheitsressourcen zu gewährleisten.
Uni Bielefeld berichtet, dass diversere Expert*innen in den Leitlinienkomitees notwendig sind, um inklusive Empfehlungen zu fördern und Strukturen für geschlechtersensible Medizin zu schaffen. Detaillierungen zur geschlechts- und gendersensiblen Medizin finden sich auch in der Analyse von Quellen wie Bundesstiftung Gleichstellung, die den Handlungsbedarf in der Antidiskriminierungsforschung weiter bekräftigen.