
Am 22. April 2025 verkündete die Universität Bielefeld eine bedeutende Förderzusage von nahezu einer Million Euro durch die Volkswagenstiftung. Diese Unterstützung ist Teil eines innovativen Forschungsprojekts unter der Leitung von Professorin Dr. Lisa Regazzoni, das darauf abzielt, das Verständnis der Geschichte grundlegend zu überdenken.
Das Projekt mit dem Titel „Towards a Material-Oriented Theory of History“ wird voraussichtlich Anfang 2026 starten. Regazzoni und ihr Team streben an, die traditionelle Geschichtswissenschaft, die die Vergangenheit oft als eine Ansammlung abgeschlossener Ereignisse interpretiert, zu hinterfragen. Stattdessen möchte die Projektleiterin zeigen, wie historische Phänomene durch Materialien, Methoden und die Perspektiven von Beobachter*innen beeinflusst werden.
Fokus auf Materialität
Ein zentrales Element des Projekts ist die Untersuchung spezifischer „Theorie-Dinge“, wie etwa Eisenschlacke, Kieselsteine oder Flecken auf Taufhauben. Diese Materialien werden genutzt, um neue wissenschaftliche Fragestellungen hinsichtlich der Beziehungen zwischen Natur- und Menschengeschichte zu entwickeln. Hierbei steht der Begriff „Materialität“ im Vordergrund, der nicht nur auf die Geschichte der materiellen Kultur anwendbar ist, sondern auch auf zahlreiche andere Forschungsbereiche wie Medizin- und Technikgeschichte.
Die Erkenntnis, dass die physische Beschaffenheit der Welt ernst genommen werden muss, ist in der geschichtswissenschaftlichen Forschung weit verbreitet. Ziel der laufenden Diskussion ist es, Schnittmengen und Gemeinsamkeiten zwischen verschiedenen Materialitätskonzepten zu identifizieren und diese für empirische Arbeiten nutzbar zu machen, wie die Historikertag-Sektion zu diesem Thema darlegt.
Theorieorientiertes Objektlabor
Ein weiterer wichtiger Bestandteil des Projekts ist das geplante theorieorientierte Objektlabor („TOOL“), in dem Historiker*innen und Naturwissenschaftler*innen gemeinsam historische Objekte analysieren werden. Dr. Boaz Paz, ein Experte für Archäometrie, wird spezielle Mikroskope und chemische Verfahren einsetzen, um die Materialien eingehend zu untersuchen.
Die TOOL-Sammlung besteht aus 40 besonderen Objekten, darunter eine Figurensammlung des bekannten Historikers Reinhart Koselleck. Durch die Zusammenführung von Natur- und Geisteswissenschaften soll eine gemeinsame Sprache entstehen, die es ermöglicht, eine neuartige Theorie der Geschichte zu entwickeln. Diese Theorien sollen allen historischen Disziplinen zugutekommen und deren interdisziplinäre Zusammenarbeit fördern.
Zukunft der Geschichtswissenschaft
Regazzoni, die 2006 in Philosophie promovierte und 2020 in Neuer Geschichte habilitierte, hat sich seit ihrer Ernennung zur Professorin für Geschichtstheorie an der Universität Bielefeld den Herausforderungen der Geschichtswissenschaft gewidmet. Ihre Arbeit ist Teil eines breiteren Trends, der sich der kritischen Analyse von Materialien in der Geschichtswissenschaft widmet.
Das Momentum-Programm der Volkswagenstiftung fördert derartige innovative Vorhaben bis zu sieben Jahre lang und bietet jungen Professor*innen die nötigen Freiräume, um neue Forschungswege zu erkunden. Die Projektzuwendung von 935.000 Euro ermutigt die Forscher*innen, neue und kreative Ansätze zur Geschichtswissenschaft zu entwickeln und fördert gezielt deren interdisziplinäre Zusammenarbeit.