
Ein internationales Forschungsteam unter der Leitung von Prof. Florian Mormann an der Klinik für Epileptologie am Universitätsklinikum Bonn (UKB) hat bahnbrechende Erkenntnisse über Gedächtnisprozesse im menschlichen Gehirn gewonnen. Diese Studie, die auf der Analyse von neuronaler Aktivität bei Menschen mit schwer behandelbarer Epilepsie basiert, nutzt implantierte Elektroden zur Aufzeichnung von Gehirnsignalen während kognitiver Aufgaben. Der Schwerpunkt liegt dabei darauf, wie das Gehirn die Abfolge von Bildern speichert. Die Ergebnisse sind vielversprechend und widersprechen etablierten Theorien zur Gedächtnisbildung.
Im Rahmen der Studie führten Teilnehmende mit Epilepsie eine Merkaufgabe durch, während ihre neuronalen Reaktionen gemessen wurden. Dr. Stefanie Liebe, die Erstautorin der Studie, äußerte sich zu den überraschenden Ergebnissen, welche die klassische Auffassung von Gedächtnisfunktionen in Frage stellen. Ein zentrales Ergebnis zeigt, dass die Zellantworten im Gehirn nicht der zeitlichen Reihenfolge der präsentierten Bilder entsprechen. Dies könnte auf einen alternativen Mechanismus der Erinnerung hindeuten, der durch das Zusammenspiel von visuellen Präsentationen, Hirnwellen und neuronalen Signalen entsteht.
Kombination von KI und neuronalen Aufzeichnungen
Die Studie hebt auch das Potenzial der Kombination von neuronalen Aufzeichnungen und Künstlicher Intelligenz (KI) hervor. In Kooperation mit Matthijs Pals und Jakob Macke vom Exzellenzcluster „Maschinelles Lernen: Neue Perspektiven für die Wissenschaft“ der Universität Tübingen, wurde ein neuronales Netzwerk entwickelt, das ähnliche Aktivitätsmuster wie das menschliche Gehirn simuliert. Diese innovativen Ansätze könnten neue Perspektiven für die Forschung an komplexen Gehirnfunktionen eröffnen.
Epilepsie ist eine weit verbreitete, neurologische Erkrankung, von der etwa jede dritte Person nicht ausreichend auf medikamentöse Therapien anspricht. Allein in der Schweiz leben rund 80.000 Menschen mit dieser Erkrankung. Ein chirurgischer Eingriff zur Entfernung des epileptogenen Herdes kann in schweren Fällen helfen, jedoch gestaltet sich die präzise Lokalisierung dieser Regionen als herausfordernd.
Digitale Hirnmodelle zur Unterstützung bei Epilepsie
Aktuell gelingt es bestehenden Methoden nur bei etwa 60% der Patienten, die betroffenen Areale korrekt zu identifizieren. Forschende um Viktor Jirsa an der Université d’Aix-Marseille arbeiten deshalb an personalisierten Hirnmodellen, den sogenannten digitalen Hirnzwillingen. Diese mathematischen Modelle basieren auf patientenspezifischen Daten und nutzen Algorithmen, um die Gehirnaktivität und die Vernetzungen innerhalb des Gehirns zu simulieren.
Der digitale Zwilling kann epileptische Aktivitäten in Hirnregionen identifizieren, die konventionellen Methoden oft entgehen. Lukas Imbach vom Schweizer Epilepsie-Zentrum sieht in diesen neuen Ansätzen großes Potenzial für die Planung chirurgischer Eingriffe. Seit 2019 läuft in 13 Epilepsie-Zentren in Frankreich eine klinische Studie mit fast 400 Teilnehmenden zur Erprobung dieser Technik, deren erste Ergebnisse Ende 2024 erwartet werden.
Zusammengefasst zeigt die Forschung, die sowohl die Erkenntnisse aus dem Universität Bonn in Bezug auf Gedächtnisprozesse als auch die innovativen Ansätze zur Bekämpfung der Epilepsie berücksichtigt, das enorme Potenzial der Kombination aus KI und individuellen Hirnmodellen. Diese Entwicklungen könnten nicht nur die Grundkenntnisse über Gedächtnisbildungen vertiefen, sondern auch neue therapeutische Möglichkeiten für Patienten mit Epilepsie eröffnen und die Präzision bei chirurgischen Eingriffen verbessern.